Gründe für eine offene Beziehung
Wie so oft gilt auch hier: Warum man Interesse an einer offenen Beziehung zeigt unterscheidet sich stark individuell. Die meisten Gründe lassen sich jedoch grob einer von drei Kategorien zuordnen.
Persönliche Motivation: Selbstverwirklichung/-entfaltung
Der Wunsch, irgendwann den perfekten Partner zu finden, der uns in wirklich allen wichtigen Aspekten gleicht, wohnt immer noch vielen von uns inne. Gegensätze ziehen sich an bleibt zwar ein verbreitetes Sprichwort, ist in der Forschung aber faktisch widerlegt (Quelle). Denn wenn uns das Andere anzieht, beinhaltet es in seinem Kern meistens etwas, dass wir für uns selbst gern hätten oder zeigt uns auf, wie man selbst gern wäre. Was wir in potentiellen Partnern suchen, ist letztlich also das, was uns als Person ausmacht. Die Dinge, die unsere Identität definieren.
Hier eine hundertprozentige Übereinstimmung zu erreichen ist unmöglich. Denn dafür müssten wir uns selbst gegenüberstehen. Und jeden Menschen gibt es bekanntlich nur einmal.
Lange Rede, kurzer Sinn: Egal welchen Partner wir auch wählen mögen, egal wie viele Übereinstimmungen man mit ihr oder ihm auch hat, irgendwo wird er oder sie sich immer von uns unterscheiden. Das ist natürlicher Bestandteil dessen, was uns als Individuen ausmacht. Aber es bedeutet auch, dass es immer Aspekte und Interessen geben wird, die unser Partner nicht mit uns teilt.
An diesem Punkt setzt eine offene Beziehung an. Oberflächlich betrachtet mag die Hinzunahme sexueller Autonomie innerhalb der Partnerschaft zwar nur wenig mit den eigenen, mit dem Partner nicht-geteilten, Interessen zu tun haben – doch geht sexuelle Offenheit bei vielen Menschen auch mit Offenheit auf anderen Ebenen einher.
Was ist damit gemeint? Allein die Möglichkeit mit einer Person potenziell intim werden zu können, beeinflusst unser Verhalten und Erleben – unabhängig davon ob es tatsächlich zu einer solchen Interaktion kommt oder nicht. Wir sind erreichbarer, aufgeschlossener und zugänglicher. Stell dir folgende Situationen vor: Du hegst Interesse an jemandem und vereinbarst ein Treffen. In einem Fall bist du ungebunden, im anderen in einer festen Beziehung. Verhältst du dich in beiden Situationen gleich? Wahrscheinlich nicht.
Eine offene Beziehung kann es ermöglichen, mit dem Partner nicht geteilte Aspekte und Interessen stärker auszuleben. Intensivere Kontakte, sexuell oder nicht, zu Menschen mit denen solche Aspekte geteilt werden, bedeuten auch, dass man sich auf diesen Ebenen ausführlicher verwirklichen kann als es in einer festen Beziehung der Fall wäre.
Betrachtet man hingegen ausschließlich die sexuelle Seite, gibt es natürlich auch dort viel spezifisches Potential zur Selbstentfaltung. Vielleicht möchte man die Facetten von Sex mit unterschiedlichen Menschen entdecken, wieder mehr Spannung erleben oder auch mal Dinge ausprobieren an denen der Beziehungspartner kein Interesse hat. Oder vielleicht möchte man ganz einfach öfter Sex haben – gesund ist es allemal.
Die Freude an neuen Erfahrungen stellt synchron dazu einen weiteren Anreiz dar. Die eigene Beziehung mal anders zu erleben, neue physische Kontakte einzugehen und die damit einhergehenden Emotionen zu erleben – all das kann viel Lebensenergie bieten.
Viele Leute reizt auch die persönliche Herausforderung einer offenen Beziehung. Eifersucht, Besitzanspruch und Anhänglichkeit treten stärker hervor als in einer geschlossenen Beziehung, dementsprechend muss auch stärker an dem Umgang oder der Bewältigung entsprechender Emotionen gearbeitet werden. Die Arbeit an diesen Bereichen stellt eine ganz eigene Selbsterfahrung dar.
Externe Motivation: Äußere Rahmenbedingungen
Gleichsam den internen Motivationsfaktoren einer offenen Beziehung können auch externe Faktoren Anreize zur Öffnung der Beziehung bieten.
Ein sehr häufig genannter Grund ist die räumliche Distanz zwischen den Beziehungspartnern. Wer in einer anderen Stadt oder gar in einer waschechten Fernbeziehung lebt, mag sich öfter Nähe und Zärtlichkeit wünschen, ebenso jedoch die innige Verbundenheit zur besseren Hälfte nicht auflösen. Eine offene Beziehung kann hier einen Kompromiss bieten, auch wenn die Distanz weiterhin Herausforderung bleibt.
Vielleicht hat man auch jemanden kennengelernt, dem man trotz einer florierenden Beziehung näher kommen möchte. Oft wird angenommen, ein solcher Fall könne nur bei geringer Beziehungsqualität auftreten, also bei bestehenden Problemen innerhalb der Partnerschaft. Dies muss aber nicht zwingend der Fall sein, dementsprechend kann bei gegenseitigem Einverständnis auch hier eine offene Beziehung die Lösung sein.
Zu guter letzt öffnen manche Paare ihre Beziehung auch aus einem unterschiedlich starken Bedürfnis nach Sexualität. Natürlich muss ein unterschiedlich starker Sexualtrieb nicht zwingend in einer Beziehungsöffnung münden – in den meisten Fällen stellt er sogar den Regelfall dar und bringt keine weiteren Probleme mit sich. Entscheidend ist hier wie so oft das Ausmaß. Können sich beide Partner damit arrangieren? Wie stark liegt der Beziehungsfokus auf Sex? Hat ein Partner vielleicht alters- oder gesundheitsbedingte Einschränkungen der Sexualität?
Gemeinsame Motivation: Höhere Beziehungsqualität/-intensität
Viele Menschen, die noch wenig Erfahrung in dem Bereich haben, empfinden Offene Beziehungen als oberflächliche Notlösung für Leute, die von ihrem Partner nicht ausreichend lieben oder die in ihrer Beziehung nicht sexuell befriedigt sind.
Es mag für viele widersprüchlich erscheinen – dennoch entstehen viele offene Beziehungen auch aus dem Wunsch heraus, die eigene Beziehung intensiver zu gestalten. Die persönlichen und externalen Anreize mögen auf den ersten Blick zwar schwerwiegender erscheinen, doch was eine offene Beziehung langfristig aufrecht erhält sind nicht die zusätzlichen Freiheiten. Sondern die langfristig gesteigerte Beziehungsqualität.
Jeder der bereits eine längere Beziehung geführt hat kennt es – anfangs schwebt man in während der Verliebtheitsphase über allen sieben Wolken, mit der Zeit gewöhnt man sich dann langsam an den Partner. Die Liebe wird ruhiger und gemütlicher.
Natürlich muss dem nicht so sein. Viele Paare finden Wege, sich immer neu kennenzulernen und ihr Feuer neu zu entfachen. Eine Offene Beziehung stellt dabei eine von vielen Methoden dar, die einem eben jenes Potential eröffnet. Der Fachbegriff an dieser Stelle lautet new relationship energy.